IBA-Grundsätze

Leitlinien – Kabinettsvorlage vom August 2002 zur Einrichtung der IBA Stadtumbau 2010

Das Land Sachsen-Anhalt beauftragte im Jahr 2002 die Stiftung Bauhaus Dessau und die Sachsen-Anhaltinische Landesentwicklungsgesellschaft mbH (SALEG) mit der Vorbereitung und Durchführung der Internationalen Bauausstellung Stadtumbau Sachsen-Anhalt 2010. Vorausgegangen war diesem Kabinettsbeschluss des Landes eine Studie der Stiftung Bauhaus Dessau (*), die neben einer Analyse der Ursachen und Folgen des Bevölkerungsrückgangs mögliche Herangehensweisen, Interventionen und Leitbilder für die betroffenen Städte aufzeigte.

Im folgenden findet sich der Originaltext des Gründungbeschlusses, der vom Kabinett der damaligen Landesregierung Sachsen-Anhalts am 27. August 2002 verabschiedet wurde und nachdem die IBA Stadtumbau 2010 offiziell ins Leben gerufen wurde.

(* Philipp Oswalt, Klaus Overmeyer und Holger Schmidt, Studie im Auftrag der Stiftung Bauhaus Dessau, Weniger ist mehr – Experimenteller Stadtumbau in Ostdeutschland, 2001)

Präambel

Internationale Bauausstellung Stadtumbau Sachsen-Anhalt 2010 IBA STADT

Internationale Bauausstellungen setzen an den jeweiligen Grundströmungen im Planen und Bauen ihrer Zeit an und transformieren sie innovativ durch experimentelle Modellvorhaben – um die übliche Praxis voranzubringen. Für die Kommunen stellen sie eine Herausforderung und Chance dar, sich gestaltend im Interesse ihrer Bürger am Prozess zu beteiligen.

In den achtziger Jahren begegnete die IBA Berlin dem flächendeckenden Abriss in der Sanierungspraxis durch behutsame Stadterneuerung und neue Wohnformen für die Innenstadt. Sie rekonstruierte und revitalisierte europäische Stadtformen des 19. Jahrhunderts.

In den neunziger Jahren setze die IBA Emscher Park für eine altindustrielle Region im Ruhrgebiet überflüssige Fabriken, Infrastrukturen und Landschaften mit ästhetischen Mitteln wieder in Wert, um sie für die Dienstleistungsgesellschaft umzunutzen: In bezug auf Geschichte und Tradition der Industrie rekonstruierte und revitalisierte die IBA Emscher Park die industrielle Kulturlandschaft des 20. Jahrhunderts. Die gegenwärtige IBA Fürst-Pückler-Land in der Lausitz folgt diesem Muster. Beide Bauausstellungen argumentierten historisch, setzten auf Bewahren und zielten auf die Anregung von Wachstumsprozessen.

Die IBA STADT setzt an dem nun angelaufenen Prozess des Stadtumbaus in Sachsen-Anhalt an und qualifiziert die vorherrschenden Umbaukonzepte „Abreißen“ von leerstehenden Wohnungen in Kombination mit „Aufwertung“ durch städtebauliche Modellprojekte und gestalterische Experimente in der Sanierung von Plattenbauten, Gründerzeitvierteln und Innenstadtkernen.

Die IBA STADT stellt sich gemeinsam mit den Kommunen in Sachsen-Anhalt die Aufgabe, im Schrumpfen der Städte attraktive Stadtviertel zu gestalten und damit zukunftsfähige Stadtstrukturen herzustellen – ein Projekt für die nächsten beiden Jahrzehnte.

Die Komplexität dieser Aufgabe stellt besondere Anforderungen an Planung und Städtebau: die Moderation von Planungs- und Entscheidungsprozessen, in denen unterschiedliche Akteure zusammenwirken müssen, die üblicherweise getrennt handeln; die Bündelung von Wirtschafts-, Sozial- und Städtebaupolitik, durch die getrennte Förderprogramme mit potenzierten Effekten zusammengeschaltet werden; die gestalterische Profilierung von schrumpfenden Quartieren, durch die Stadträume zusammengefügt und attraktive urbane Konturen erhalten und geschaffen werden.

Um diese Aufgaben bewältigen zu können, organisiert die IBA STADT einen internationalen Austauschprozess, in dem Erfahrungen aus anderen Städten und Regionen für den Stadtumbau nutzbar gemacht werden. Durch das Zusammenwirken von lokalen und auswärtigen Experten entstehen in Sachsen-Anhalt Lösungsansätze und Expertisen, die in die internationale Diskussion eingebracht und vermarktet werden.

Stiftung Bauhaus Dessau, 15. Februar 2002

1. Stadtumbau geht alle an:

Zwischen den Interessen von Bewohnern und Eigentümern, Gewerbetreibenden und Kommunen im Prozess des Umbauens vermitteln und diese neu in Beziehung bringen.

  • Alle gesellschaftlichen Kräfte sind mögliche Pioniere des Stadtumbaus: Bewohner eignen sich Räume an, bilden Netzwerke und werden zu urbanen Akteuren – bis hin zu „Stadtgründern“.
  • Der Stadtumbau entfaltet sich, wenn die wirtschaftlichen Ziele der privaten Eigentümer und Wohnungsunternehmen mit den Interessen der Nutzer abgestimmt und vereinbart werden. Aufgabe der Kommune ist es, diesen Verhandlungsprozess zu steuern.
  • Raumpioniere und ihre innovativen Verhaltensmuster setzen in bestehenden Strukturen unkonventionelle Handlungsmöglichkeiten frei – das gilt insbesondere für Jugendliche und Existenzgründer, die in ihrer gewerblichen Selbstständigkeit unterstützt werden.
  • Subventionierte freie Zeit der Bewohner wird mit freiem Raum zur Aneignung und zur Vermögensbildung verknüpft. Damit entstehen Anreize zur Selbständigkeit und zur Bildung von Wohneigentum in den Innenstädten.

2. Strukturwandel ist eine Chance für Stadtgestaltung:

Unbekannte Potenziale entdecken und im Umbauprozess kreativ entwickeln.

  • Stadtumbau umfasst mehr als die Anpassung des Wohnungsmarktes durch Abriss und städtebauliche Aufwertung: Stadtumbau ist eine vielschichtige Aufgabe der Gestaltung von zukunftsfähigen Stadtstrukturen.
  • Stadtumbaukonzepte müssen neu bewerten, ob und wie die Stadtstruktur insgesamt, einzelne Teilgebiete sowie Gebäudegruppen und Einzelgebäude verwendet werden können. Dies muss vor dem Hintergrund plausibel begründeter Entwicklungs- bzw. Konsolidierungspotenziale geschehen.
  • Stadtumbau greift ein in Stadtstrukturen und in sich ändernde soziale Gefüge und dauert länger, als es momentane Planungshorizonte oder Förderperioden vorgeben und biografische Lebenszyklen der Bewohner erfordern.
  • Stadtumbau ist die Verknüpfung der städtebaulichen mit betrieblichen Sanierungskonzepten der Wohnungsunternehmen sowie die Nachnutzung der kommunalen technischen und sozialen Infrastruktureinrichtungen.
  • Räume und Gebäude mit preiswerten Ausstattungsstandards bieten produktive Handlungsoptionen für informelle Dienstleistungsökonomien, die Träger von Stadtkultur werden müssen.

3. Die Form der Stadt wandelt sich:

Leitbilder für die umgebaute Stadt formulieren und in Quartierskonzepte umsetzen.

  • Die neuartige Chance des Stadtumbaus besteht darin, der Besonderheit jeder einzelnen Stadt durch die Beseitigung von Überformungen und Auswüchsen wieder eine klarere Kontur zu verleihen: „Weniger ist mehr“.
  • Der unstrukturierte Zusammenhang von perforierten Stadtfragmenten erfordert neue Interpretationen und Aneignungsformen des Städtischen. Postindustrielle Handlungsmuster, virtuelle Kommunikationen und transformierte soziale Netze verändern die alltägliche Wahrnehmung und Nutzung von Stadträumen: Urbane Lebensweisen sind nicht mehr an die traditionelle Gestalt der Stadt gebunden.
  • Für jede Stadt ist vorzuschlagen, in welcher Weise ihre bebauten Quartiere aus früheren stadtbaugeschichtlichen Epochen, sowie weitere Brach-, Grün-, Verkehrs- und andere Flächen und stadträumliche Verknüpfungen so gestaltet werden können, dass sie auch bei anhaltender Schrumpfung nutzungsstrukturell funktionsfähig und städtebaulich attraktiv bleiben.
  • Die unterschiedlich verdichteten und genutzten Quartiere sind als Stadträume mit charakteristischen Profilen funktional und räumlich neu zusammen zu fügen. Dies muss so geschehen, dass diese Quartiere auch langfristig stabil bleiben oder konsolidiert werden können.
  • Städtebau braucht ein erweitertes Planungsverständnis von Architektur und von Stadt als sozialem Raum, einen Paradigmenwechsel im Zusammenspiel von Planung, Umsetzung und Reflexion der Folgen.

4. Modellprojekte profilieren den Umbau:

Durch experimentelle Gestaltung und innovative Nutzungsmischungen Städte attraktiv umbauen.

  • Bestehende Baustrukturen und Stadtgrundrisse werden neu interpretiert und umgewidmet, nicht mehr verwendbare Großstrukturen werden in handhabbare Einheiten zerlegt und für neue Nutzungen transformiert.
  • Städtebauliche Experimente verknüpfen in einzelnen Projekten des Stadtumbaus Arbeiten mit Wohnen und Freizeit mit Kultur. Diese Verknüpfungen zielen auf Nutzungsmischungen in Haus und Quartier, also auf die kleinräumige Produktion von „Stadt“.
  • Modell-Projekte für den Stadtumbau werden nicht nur in den festgelegten Fördergebieten, sondern auch für andere Stadtteile konzipiert, die für die Entwicklung der Stadtstruktur besonders wichtig sind.
  • Neben Abreißen sind Formen der Bestandserhaltung zu prüfen, die das Profil der Quartiere stärken – auch Neubau dient diesem Ziel der Profilbildung.

5. Jede Stadt hat ihren eigenen Entwicklungspfad:

Die Qualitäten der Städte identifizieren und in das regionale Städtenetz einordnen.

  • Jede Stadt bestimmt ihre Entwicklungsperspektiven vor dem Hintergrund ihrer historischen Prägung, die ihre Position im Städtenetz von Sachsen-Anhalt und darüber hinaus markiert. Konsolidierungs- und Entwicklungschancen ergeben sich aus endogenen Potenzialen ebenso wie aus der regionalen Bedeutung.
  • Die Ungleichheiten in der Ausstattung und die ungleichzeitige Entwicklung von Räumen bieten Chancen für verschiedene Lebensformen: Charakteristische regionale Unterschiede sind nicht aufzuheben, sondern in ihrer Dynamik produktiv zu steigern.
  • Die Formulierung von Stadt-Typologien zielt auf klare Konturen und attraktive Raum-Bilder von Städten in der Region: an ihnen richten die Kommunen den Entwurf von Leitbildern und die Entwicklung von Modernisierungsstrategien aus.

6. Im Umbau entstehen Frei-Räume:

Stadt und Landschaft in ein gleichwertiges Spannungsverhältnis setzen.

  • In Form von Brachen, Brüchen und inneren Peripherien fließen post-industrielle Landschaften in die Stadt und bestimmen ihr Bild wesentlich mit.
  • Übergänge und Randsituationen zwischen Bebautem und Unbebautem sind produktive Zonen des Stadtumbaus, die hier entstehenden Freiräume werden zu Experimentierfeldern eines neuen Typs von Stadt-Landschaft. Der vielfältige Wunsch nach einem Leben am Stadtrand kann in innerstädtischen Lagen verwirklicht werden.
  • Landschaften werden Erlebniswelten innerhalb der Städte.

7. Stadtumbau erschließt vielfältige Finanzierungsquellen:

Fördermittel aus Wirtschafts-, Sozial- und Städtebaupolitik beispielhaft verknüpfen.

  • Modellprojekte mit gebündelter Förderung gehen über die herkömmlichen Verfahren, Instrumente und Handlungsabläufe des Stadtumbaus hinaus und regen erforderliche Gesetzesänderungen an.
  • Durch entsprechende Fördermittelentscheidungen muss die Finanzierung experimenteller Projekte mit internationaler Vorbildfunktion gesichert werden.
  • Stadtumbauprojekte erzielen Arbeitsmarkteffekte im privaten und öffentlichen Sektor.

8. Medien und Kommunikation bestimmen das Bild der Stadt:

Konzepte des Stadtmarketings für den Umbau entwerfen.

  • Medien, Kommunikation und Bilder haben wesentlichen Einfluss auf Stadtgestaltungen und werden als Werkzeuge von Planen und Bauen eingesetzt.
  • Ästhetische Interventionen schaffen mentale Freiräume und Bildangebote zur Selbstaktivierung – offene und flexible Strukturen ermöglichen urbanes Verhalten.
  • Stadtmarketing profiliert das Bild der Stadt und schafft in der Verbindung von Stadtkultur und Wirtschaft Arbeitsplätze.

9. Schrumpfende Städte sind ein internationales Phänomen:

Den Stadtumbau in seinem globalen Kontext organisieren und vermitteln.

  • Der Stadtumbau ist eine Epochenaufgabe der ostdeutschen Städte, vor der auch viele andere europäische und außer-europäische Städte stehen. Die „Schrumpfende Stadt“ ist ein internationales Thema, das in einem weltweiten Diskussions- und Experimentierforum vergleichend debattiert werden muss.
  • Der Stadtumbau wirft neue Fragen auf und etabliert neue Forschungsfelder in den Bereichen Planung, Stadttechnik, Ökonomie und Kultur, die im internationalen Austausch bearbeitet werden.
  • Das Know-how des Stadtumbaus Ost erzeugt regional und international vermarktungsfähige Lösungskonzepte.

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