Ausgangslage

Wie weiter ohne Wachstum?

Seit der Wiedervereinigung haben viele ostdeutsche Städte und Regionen tiefgreifende demographische und strukturelle Umbrüche erfahren. Diese vollzogen sich nicht nur erheblich schneller, als vergleichbare Entwicklungen in Westdeutschland, sondern auch mit tiefer greifenden Folgen. Leer stehende Wohnhäuser, überdimensionierte Infrastruktur und ungenutzte Gewerbegebiete bestimmen das Bild vieler Städte Sachsen-Anhalts und darüber hinaus. Mit dem Phänomen dieser schrumpfenden Städte und ihrer Zukunft beschäftigt sich die IBA Stadtumbau 2010 seit ihrer Initiierung vor acht Jahren.

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Die Wohnungssituation in den Städten der ehemaligen DDR kurz nach der Wende ist paradox: Einerseits stehen bereits 1989 etwa 300.000 Wohnungen leer, ganze Straßenzüge sind verwaist und unbewohnt. Zugleich sind Wohnungen mit akzeptablen Standards in den Innenstädten knapp – zu lang hat man auf notwendige Modernisierungen verzichtet, zu wenig in die Erhaltung der Gebäude und der Infrastruktur investiert. Vielfach sind die Kommunen Ostdeutschlands deshalb mit maroden Stadtzentren konfrontiert, die den Ansprüchen der neuen Zeit nicht mehr gerecht werden können. Um das Wohnungsangebot zu verbessern, fördert der Staat nach 1990 Wohnungsneubau und die Sanierung von Altbauten massiv.

Die Menschen aber zieht es zunehmend in die Randgebiete. Eigene Häuser sind für viele ein Traum, der nun, nach dem Ende der sozialistischen Ära und ihrer Restriktionen, endlich greifbar wird. Immer mehr Bürger wandern aus den Kernen ab und bauen – ebenfalls mithilfe staatlicher Subventionen – im Umland und an den Rändern der Städte. Anders als in den Innenstädten, wo die Politik die Rechte der Alteigentümer an die erste Stelle setzt (Restitution statt Innovation), sind die Eigentumsverhältnisse hier relativ unproblematisch, das Bauland günstig. Diese räumliche Verlagerung entvölkert die Städte weiter. In der ersten Dekade nach der Wende sind die Auswirkungen des Suburbanisierungsschubs erheblich drastischer als die der Abwanderung in den Westen.

Privatwirtschaftliche Investitionen verstärken diese Entwicklung: Anders als in Westdeutschland entstehen zwei Drittel der nach 1990 neu errichteten Einkaufszentren nicht in den Zentren, sondern ebenfalls in der Peripherie der Städte. Unzählige Gewerbegebiete und Shopping Malls schießen gleichsam aus dem Boden, und mit der Bevölkerung ziehen auch die Versorgungsangebote zunehmend ins Umland und in die Vorstädte. Der Leerstand in den Innenstädten dagegen wächst und trifft auch die staatlich geförderten Neubauten und die mittlerweile sanierten Altbauten der Zentren. Bis zum Jahr 2000 stehen in Ostdeutschland bereits über eine Million Wohnungen leer.

Um den Wohnungsmarkt zu stabilisieren, beginnt mit dem 2001 von der Bundesregierung initiierten Programm Stadtumbau Ost das politische Umdenken. Abrisssubventionen, zuvor undenkbar, sollen dem Leerstand in den Städten begegnen. Die Erarbeitung von Stadtentwicklungskonzepten mit einer gezielten Bestandsaufnahme seitens der Kommunen soll mittelfristige Perspektiven für die demographische und wirtschaftliche Entwicklung der Städte schaffen. In den folgenden Jahren werden 350.000 Wohnungen abgerissen – überwiegend in den Plattenbauquartieren der Peripherie, deren Bewohner man für die Innenstädte zu gewinnen sucht. Indessen hält der Bevölkerungsrückgang in den Zentren weiter an. Die Integration der ostdeutschen Wirtschaft  in den Weltmarkt, die den weitgehenden Zusammenbruch der industriellen Strukturen der früheren DDR zur Folge hatte, zieht in den 1990er Jahren eine fortschreitende Deindustrialisierung nach sich und führt zu einem massiven Rückgang an Arbeitsplätzen und einer hohen Langzeitarbeitslosigkeit. Die Reallöhne sind gesunken, und der neu geschaffene Wohnraum in den Innenstädten ist gegenüber den preiswerteren Plattenbauten vielfach zu teuer, um konkurrenzfähig zu sein.

Trotz der bisher getätigten Abrisse verzeichnen viele Städte aufgrund des fortgesetzten Bevölkerungsrückgangs nach wie vor bis zu 20 Prozent Leerstand. Vor allem junge Menschen wandern auf der Suche nach Arbeit in die größeren Zentren und vor allem in die alten Bundesländer ab. Mit ihnen verliert Sachsen-Anhalt die nächsten Generationen der Familiengründerinnen und Familiengründer. Dieser Geburtenrückgang wird sich auch künftig auf den Wohnungsmarkt auswirken und weiteren Leerstand verursachen. 2009 wird das Bund-Länder-Programm Stadtumbau Ost deshalb verlängert, weitere 200.000 Wohnungen sollen bis 2016 abgerissen werden.

Als eher dünn besiedeltes Bundesland ohne größere Ballungsräume ist Sachsen-Anhalt von den Bevölkerungsverlusten durch Suburbanisierung, Deindustrialisierung und demographischen Wandel besonders betroffen. Wo sich anderswo in den neuen Bundesländern zumindest einzelne Standorte konsolidieren konnten und ihre Einwohnerzahlen mittlerweile stabilisiert haben, verlieren die Städte hier auch weiterhin Einwohner – mittel-, aber auch langfristig. Mit der IBA Stadtumbau 2010 stellte sich Sachsen-Anhalt deshalb einem lange Zeit kaum öffentlich diskutierten Tabuthema: Wie weiter mit den Städten, in denen Wachstum und Bevölkerungszuwachs auch auf längere Sicht nicht zu erwarten sind? Wie lassen sich auch im Schrumpfen Perspektiven entwickeln und Strukturen schaffen, die die Zukunft der Städte nicht verloren geben? Aus einem Labor für experimentelle Gestaltung ist so mittlerweile eine Modellregion geworden, deren Bedeutung weit über die Grenzen Deutschlands hinausgeht. Das Ergebnis der IBA Stadtumbau 2010 ist nicht das Ende des Rückgangs, aber seine positive Wendung mithilfe angepasster Handlungsstrategien und kleinerer, gestraffter Strukturen – denn Weniger ist Zukunft.