Projekt Köthen (Anhalt)

Homöopathie als Entwicklungskraft

Fehlende überregionale Verkehrsanbindungen hemmen die industrielle Entwicklung in Köthen, der Niedergang des Maschinenbausektors hat seit 1990 zu stetig sinkender Wirtschaftskraft und dadurch auch zu sinkenden Einwohnerzahlen geführt. Im Rahmen der IBA Stadtumbau 2010 hat Köthen begonnen, ein anderes Stadtprofil aufzubauen und dafür auf eine einzigartige Tradition der Stadt zurückzugreifen: Die Homöopathie soll wieder ein wichtiger Baustein des kulturellen und wirtschaftlichen Stadtprofils werden.

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In einem stadtplanerischen Experiment soll erprobt werden, inwieweit Methoden der Homöopathie auf die Stadtplanung übertragen werden können. Damit besinnt sich Köthen einer weiteren, in Vergessenheit geratenen Tradition, denn seit dem 17. Jahrhundert hatte sich die Stadt einen Ruf als liberaler Freiraum für kreatives und durchaus experimentelles Gedankengut erworben. 1617 entstand hier mit der „Fruchtbringenden Gesellschaft“ der erste Verein zur Pflege der deutschen Sprache und 1618 Deutschlands erster Schulbuchverlag. Die explizite Förderung der Bildung und die Ideen der Aufklärung lockten Wissenschaftler, Forscher und Künstler nach Köthen. Joseph von Eichendorff besaß hier ein Wohnhaus, Johann Sebastian Bach komponierte hier als Hofkapellmeister die „Brandenburgischen Konzerte“ und Teile des „Wohltemperierten Klaviers“. 1821 kam schließlich Samuel Hahnemann, der als Begründer der Homöopathie in Deutschland gilt. Er blieb bis 1835, schrieb hier seine wichtigsten Bücher und gründete 1829 in Köthen den Deutschen Zentralverein Homöopathischer Ärzte (DZVhÄ) – Deutschlands ersten Ärzteverband. Ihm folgte der Heilpraktiker Arthur Lutze, der 1855 die Lutze-Klinik errichten ließ. Diese bescherte der Stadt eine wirtschaftliche Blüte, schon bald ließen sich hier 26 000 Patienten jährlich behandeln. Der Köthener Malzkaffeefabrikant Louis Wittig reagierte darauf und bewarb sein Produkt nun als „homöopathisch unbedenklichen Gesundheitskaffee“. Zwar wurde die Lutze-Klinik 1914 wieder geschlossen und auch die Homöopathie geriet in Köthen langsam in Vergessenheit. Aber schon kurz nach der Wende kamen die ersten „Homöopathie-Touristen“, Bürger und Stadtrat gründeten den „Hahnemann-Lutze-Verein“ und die „Homöopathie- und Wissenschaftsservice GmbH“. Auf private Initiative hin wurden im Wohnhaus von Samuel Hahnemann ein Museum und eine aktive homöopathische Praxis eingerichtet.

Zentrum der Homöopathie

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Um Köthen wieder zu einem Zentrum der Homöopathie zu machen, folgen den privaten Initiativen der 1990er Jahre nun städtische Projekte. Nur wenige Schritte vom Wohnhaus Hahnemanns entfernt wurde das ehemalige Spital des Klosters der Barmherzigen Brüder, eines der wichtigsten Baudenkmäler der Stadt, aufwendig saniert. Seit Oktober 2009 findet sich hier die „Europäische Bibliothek der Homöopathie“, deren Bestand bereits mehr als 3000 Bände umfasst, darunter wertvolle Erstausgaben Samuel Hahnemanns. Veranstaltungen und Ausstellungen des DZVhÄ sollen aus dem Haus einen lebendigen Ort des Austauschs werden lassen und ab 2010 wird hier in Kooperation mit der Magdeburger Otto-von-Guericke-Universität der berufsbegleitende Fernstudiengang „Integrated Practise in Homeopathy“ angeboten.

Um die Geschichte und Bedeutung der Homöopathie in Köthen sichtbar zu machen, hat die Stadt einen „Homöopathiepfad“eingerichtet, der von der neuen Bibliothek zur Lutze-Klinik führt. An den Giebeln einiger Häuser sind großformatige Zitate Samuel Hahnemanns zu sehen, der Vorplatz des Magdeburger Turms ist nun als „Ruheplatz“ mit in der Homöopathie gebräuchlichen Heilpflanzen neu gestaltet.

„Homöopathische Stadtplanung“

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Darüber hinaus wurde in Köthen erprobt, inwiefern sich Grundgedanken der Homöopathie auf die Stadtplanung übertragen lassen. Ein interdisziplinäres Team aus Stadtplanern und homöopathischen Ärzten hat diese Frage experimentell erforscht. Tatsächlich gibt es gewisse Analogien zwischen den Methoden: Der Gesundungsprozess wird in der Homöopathie vor allem durch „systemische Eigenregulation“ gefördert. Gering dosierte Arzneien sollen die Selbstheilungskräfte anregen, dabei wird die Krankheit gelegentlich kontrolliert verschlimmert, um eine Reaktion zu provozieren. Die Arzneimittel werden nach dem „Ähnlichkeitsprinzip“ ausgesucht: Der Erkrankte erhält ein Homöopathikum, das bei gesunden Menschen ähnliche Symptome erzeugt. In ausführlichen, individuellen „Anamnesegesprächen“ werden die Wirkung der Arznei und die Fortschritte der Genesung geprüft, um die weiteren Schritte der Therapie festzulegen.

Diese Schritte wurden methodisch abstrahiert und an einem konkreten „Testfeld“ in der Ludwigstraße empirisch nachvollzogen. Hier sollten 14 Häuser abgerissen werden, die wirtschaftlich nicht mehr zu halten waren. Der Abriss hätte die Attraktivität der Straße weiter reduziert und der Wohnungsgesellschaft war es zunächst nicht gelungen, Mieter oder Eigentümer zu aktivieren. Die Ärzte und Stadtplaner der IBA-Arbeitsgruppe analysierten zunächst die Problemlage in einer Vielzahl persönlicher Gespräche mit den lokalen Akteuren – der Anamnese. Als Impuls wurde in der Straße für 15 Minuten das Licht ausgeschaltet, um dann die 14 abzureißenden Häuser mit Theaterscheinwerfern dramatisch und grell zu beleuchten. In der anschließenden Versammlung der Hausbesitzer entlud sich aggressive Irritation, die aber noch an diesem Abend in einen konstruktiven Prozess gelenkt werden konnte. Die Wohnungsgesellschaft riss dann vier Häuser ab, um einen Neubau zu errichten, der weniger massiv und mit preiswerten, barrierefreien Wohnungen ein Zeichen für zukünftiges Bauen in der Innenstadt geben soll. Diese Investition hat die Bewohner der Ludwigstraße motiviert. Anwohner haben inzwischen vier Häuser gekauft und saniert, neue Gärten und Parkplätze wurden angelegt. Stück für Stück erhält die Ludwigstraße ein neues Gesicht.

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Die teilweise heftigen Reaktionen der Betroffenen zeigten, dass mit dem Mut, eine Krise bewusst zu provozieren, durchaus unerwartete Energien aktiviert und daraus überraschende Lösungsansätze gemeinsam entwickelt werden können. Aus Betroffenen wurden Beteiligte, aus deren Ideen werden schrittweise Planungsziele definiert. Wie in der Homöopathie wird der „Genesungsprozess“ kontinuierlich begleitet und gesteuert, die Planer agieren als Moderatoren eines möglichst lange ergebnisoffenen Prozesses. Als zweites Testfeld dieser Stadtplanung mit homöopathischen Ansätzen wird nun der von Verwahrlosung betroffene Friedenspark „behandelt“.

Ausblick

Der Ruf als homöopathisches Zentrum soll europäische Tagungen und Kongresse in die Stadt bringen, Köthen wird Teil eines Bildungsnetzwerkes zur Homöopathie. Die Methode der „offenen Gebietsentwicklung“ soll mit den Erfahrungen der Ludwigstraße auf andere Gebiete übertragen werden. Faszinierender noch ist aber die Vorstellung, dass Köthen in der Summe dieser Planungen wieder an das Profil eines liberalen, kreativen Freiraums für innovative Gedanken und Experimente im anhaltinischen Städtenetzwerk anknüpfen könnte.

Florian Heilmeyer, 2010

Präsentation 2010 in Köthen (Anhalt)

Ausstellung

Europäische Bibliothek für Homöopathie, Wallstraße 48

Ausstellungsgestaltung: Stefan Adlich, Leipzig und Tom Unverzagt, Leipzig

Film: Testfeld Ludwigstraße. Homöopathie als Entwicklungskraft

9:47 min, Henry Mertens, 2009

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Info: Köthen (Anhalt)