Projekt Dessau-Roßlau

Neue Landschaften zwischen Stadtinseln

Wie ein Ausrufezeichen steht der alte Räucherturm in der neuen Landschaft. Geräuchert wird hier nicht mehr, dafür kann man jetzt in die Ferne schauen: Wer die Stufen zur Aussichtsplattform hinaufsteigt, hat einen weiten Blick über Dessau – und auf die wilden Wiesen, die in die Stadt hineinwachsen, wo noch vor Kurzem Fabriken, eine Schule, eine dicht bebaute Straße standen.

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Der Landschaftszug ist Teil des Stadtentwicklungskonzepts mit dem Titel „Stadtinseln – urbane Kerne, landschaftliche Zonen“, das zugleich der IBA-Beitrag von Dessau-Roßlau ist. Die Stadt, die während der Industrialisierung durch zahlreiche Eingemeindungen, Zuzug und Wachstum rasant expandierte, soll langfristig in einzelne stabile Kerne „verinseln“. Dazwischen entstehen auf Abrissflächen neue innerstädtische Landschaften – in Anlehnung an das Dessau-Wörlitzer Gartenreich, das die Region umgibt und wichtiger Teil ihrer Identität ist.

Dessau-Roßlau ist sichtlich geprägt von einer wechselvollen Geschichte: So zeugt das Gartenreich von den Ideen der Aufklärung. Ab Ende des 19. Jahrhunderts wuchs Dessau zur Industriestadt. Das Bauhaus, seit 1925 in Dessau angesiedelt, suchte angesichts der radikalen gesellschaftlichen Veränderungen neue visionäre Antworten. Heute gehört die klassische Moderne mit Walter Gropius’ Bauhaus, den Meisterhäusern, der in industrieller Bauweise errichteten Siedlung Törten zu den bedeutendsten Denkmälern der Stadt. Das Bauhaus-Ensemble ist ebenso wie das Gartenreich Teil des UNESCO-Weltkulturerbes.
Unter den Nazis wurde Dessau zum Rüstungszentrum und damit wiederum zum Luftangriffsziel der Alliierten: Etwa 80 Prozent der Innenstadt wurden irreparabel zerstört. Nach dem Krieg entstanden zahlreiche Neubauten. Doch auch zu DDR-Zeiten blieb Dessau ein wichtiger Industriestandort.

Die rasante Deindustrialisierung nach der Wende traf die Stadt deshalb hart. Durch eine verfehlte Privatisierungspolitik und Zerschlagung bisheriger Strukturen wurde dem Standort binnen Kurzem die wirtschaftliche Basis entzogen. Hohe Arbeitslosigkeit, Abwanderung, zunehmender Leerstand waren die Folgen. Seit der Wende sank die Einwohnerzahl Dessaus von circa 100 000 auf 76 000 – erst nach der Fusion mit Roßlau im Jahr 2007 zählte die nunmehrige Doppelstadt wieder rund 88 000 Einwohner.

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Anfang des neuen Jahrtausends war nicht mehr zu ignorieren, dass der Prozess unumkehrbar war und alle herkömmlichen Wachstumsrezepte versagten. Demografischer und ökonomischer Wandel, Schrumpfung und Rückbau erforderten völlig neue konzeptionelle und methodische Wege. Die Stadt organisierte zusammen mit dem Bauhaus Dessau und dem IBA-Büro eine interdisziplinäre Planungswerkstatt mit vielen Akteuren. Das Ergebnis dieses Diskussionsprozesses war die Abkehr von althergebrachten Masterplänen und der Beginn eines offenen, auf 20 bis 30 Jahre angelegten Prozesses, um zeitlich und räumlich flexibel auf den Wandel der Stadt zu reagieren. Das setzte auch die Entwicklung eines neuen Planungs- und Flächenmanagements voraus.

Urbane Kerne – landschaftliche Zonen

Play VideoZwei Schwerpunkte setzt das Konzept: zum einen die Stabilisierung der urbanen Kerne, zum anderen die Entwicklung neuer Landschaftszonen. In einem ersten Schritt wurde der zentrale Landschaftszug vom Bahnhof bis in die Südstadt entworfen. Hier lagen bereits etliche Grundstücke brach, jedoch befanden sich einige in Privat- oder Bankenbesitz und konnten von der Stadt erst nach langwierigen Verhandlungen zum symbolischen Preis erworben werden. Weitere notwendige Wohnungsabrisse wurden auf diesem Areal konzentriert, um eine möglichst zusammenhängende Fläche zu erhalten.

Über die Gestaltung und Ästhetik des neuen Grünzugs wurde eingehend öffentlich debattiert. Am Ende fiel die Entscheidung für extensive Landschaften: wilde, einschürige Wiesen, die – angesichts knapper finanzieller Ressourcen – keiner aufwendigen Pflege bedürfen, aber Artenvielfalt und experimentelle Nutzungen zulassen. Zudem wurden prägende Elemente entwickelt wie der „Rote Faden“, der als Leit- und Informationssystem entlang des Grünzugs führt und Stationen des Umbaus erläutert. Um bürgerschaftliches Engagement zu fördern, entstand die Idee der „Claims“: überschaubare Freiflächen von 20 x 20 Metern, die interessierten Bürgern in Patenschaft zur öffentlichen Nutzung für vielfältige Aktivitäten angeboten werden. So entstanden unter anderem ein interkultureller Garten und ein „Apothekergarten“. Aber auch größere Flächen fanden Nutzer wie eine BMX-Anlage.

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Bei der langfristigen Neuordnung des gesamtstädtischen Gefüges erfordert die Entwicklung der urbanen Kerne besondere Aufmerksamkeit und maßgeschneiderte Konzepte. Angestrebt wird eine „Stadt der kurzen Wege“, um für die Bewohner Lebensqualität zu sichern und wieder mehr Maßstäblichkeit in der zu groß gewordenen Stadt herzustellen. Insgesamt gilt es, Infrastrukturen zu straffen, das zunehmende soziale Gefälle zwischen „reichem“ Norden und „armem Süden“ auszugleichen und die individuellen Profile der Kerne zu stärken. Zugleich bemüht sich Dessau-Roßlau um eine Baukultur, die in den vergangenen Jahrzehnten fehlte. Die Stadt entdeckt ihr bedeutendes bauliches Erbe der Moderne wieder und will sich weiter als „Bauhausstadt“ profilieren: Die Moderne soll stärker in die neue Stadtgestaltung integriert werden.
Zunächst haben drei Gebiete Priorität: die Innenstadt, das „Wissensquartier“ mit dem Bauhausensemble, dem Hochschulcampus und dem Umweltbundesamt sowie die Südstadt mit dem Quartier am Leipziger Tor.

Dem im Krieg zerstörten Zentrum mit unterschiedlichsten historischen Schichten von Barock bis zur Nachwendezeit fehlt bislang ein städtischer Zusammenhang, es soll mit seinen öffentlichen und kulturellen Funktionen wieder gestärkt werden. Erste Schritte waren der Umbau des ehemaligen AOK-Gebäudes zu einem Sport- und Kurshaus sowie die Modernisierung der denkmalgeschützten Stadtschwimmhalle als Erlebnisbad. Das Alte Theater entstand als neuer Kulturstandort. Eines der wichtigsten Vorhaben ist die Umgestaltung des Dessauer Stadtparks zu einem interkulturellen Generationenpark mit vielfältigen Angeboten für unterschiedlichste Nutzergruppen. Zur Zukunft des Zentrums fand im Sommer 2009 ein Workshop statt, um neue Ideen und Impulse zu entwickeln und wird jetzt ein Masterplan erarbeitet.

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Das „Wissensquartier“ soll durch Kooperation und Vernetzung der ansässigen Institutionen als Wissenschaftsstandort profiliert werden. Zu den IBA-Projekten gehörte auch die Aufwertung des öffentlichen Raumes zwischen Hauptbahnhof und Bauhaus: Seit 2009 präsentiert sich das Umfeld der UNESCO-Weltkulturstätten mitsamt dem Westausgang des Bahnhofs in neuer Gestaltung. Ein weiterer Schwerpunkt ist die Wiederherstellung der Meisterhäuser. Geplant ist außerdem der Neubau eines separaten Besucherzentrums für das Bauhausensemble. Die ehemalige „Kaufhalle am Bauhaus Dessau“ wird behutsam umgebaut und soll die gemeinsame Bibliothek der Stiftung Bauhaus Dessau und der Hochschule Anhalt beherbergen.

Das Viertel am Leipziger Tor, ein von Nachkriegsbauten geprägtes Wohngebiet, kämpft mit vielen sozialen und städtebaulichen Problemen. Zudem konzentrieren sich hier die Abrisse im Zuge des Stadtumbaus, was besondere Sensibilität im Umgang mit dem Quartier erfordert, um den Verlusten neue Qualitäten entgegenzusetzen. Daneben geht es vor allem um soziale Stabilisierung: 2005 wurde ein Quartierskonzept zu sozialräumlichen Handlungsperspektiven erarbeitet. Unterschiedliche Akteure schlossen sich zu einem Netzwerk zusammen. In einem Stadtteilladen arbeitet neben dem Quartiersmanagement Soziale Stadt die „Kontaktstelle Stadtumbau“: Sie dient den Bürgern als Ansprechpartner und Mittler zur Verwaltung und unterstützt das Netzwerk der sozialen Einrichtungen.

Das neue Konzept ist der Beginn eines offenen wie komplexen Prozesses, der vor allem intensive Kommunikation mit den Bürgern und Akteuren erfordert. Die größte Herausforderung für alle Beteiligten wird sein, die Ungewissheiten, Zwischenzustände und Provisorien dieses Veränderungsprozesses auszuhalten. Die gewonnenen Erfahrungen, die neu erarbeitete Kommunikations- und Planungskultur und Instrumente wie die Planungswerkstatt oder die Kontaktstelle, sollen nun auch bei den nächsten Aufgaben wie der Stabilisierung der urbanen Kerne genutzt werden.

Ulrike Steglich, 2010

Präsentation 2010 in Dessau-Roßlau

Ausstellung

Empfangsgebäude Hauptbahnhof, Fritz-Hesse-Straße 47

Gestaltung: complizen Planungsbüro, Halle (Saale)

Weitere Dessau-Roßlau-Bilder

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Info: Dessau-Roßlau