Projekt Halberstadt

Kultivierung der Leere

„Leere“ ist sicher ein Thema für die meisten der an der IBA Stadtumbau 2010 beteiligten Städte – aber in Halberstadt wurde sie zur zentralen Frage: Wie können die öffentlichen Räume der Innenstadt aktiviert werden? Kann die „Leere“ als Teil des Stadtbildes begriffen werden und kann daraus eine eigene Qualität entstehen?

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Das verlorene Zentrum

Die Stadt blickt auf eine über 1200-jährige Geschichte als Zentrum im Harzvorland zurück. Aber aus dieser Zeit, als Halberstadt aufgrund seiner Fachwerkhäuser das „Rothenburg des Nordens“ genannt wurde, sind nur wenige Bauten erhalten geblieben, Ereignisse im Dritten Reich haben auf ganz unterschiedliche Weise dafür gesorgt, dass „Leere“ zu einem bedeutenden Teil der Altstadt wurde. Zunächst wurde die jüdische Gemeinde, die in der Stadt eine wichtige Rolle gespielt hatte, ab 1933 ins Exil getrieben. Während der Novemberpogrome 1938 war auch die große Synagoge abgerissen worden. Am 8. April 1945 wurden bei einem der letzten großen Fliegerangriffe über 80 Prozent der innerstädtischen Gebäude von Brandbomben zerstört. Zu DDR-Zeiten verfielen die verbliebenen Altbauten oder wurden noch in den späten 1980er-Jahren abgerissen. Die Leere wurde zu einem festen Bestandteil in Halberstadts Innenstadt.

Das wiedergefundene Zentrum

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1990 wurde Halberstadt in das Modellstadtprogramm aufgenommen: Die etwa 450 verbliebenen historischen Häuser wurden saniert, innerstädtische Neubauten wie das Rathaus orientieren sich am historischen Stadtgrundriss. Bürgervereine engagierten sich beim Wiederaufbau und sammelten zum Beispiel Spenden für die Rekonstruktion der so genannten „Ratslaube“ mit erhaltenen Fragmenten. 1998 wurde das Stadtzentrum feierlich „wiedereröffnet“. Auch jüdisches Leben gewinnt langsam wieder an Bedeutung: 1995 wurde die Moses Mendelssohn Akademie für Forschungen zum jüdischen Leben in Deutschland gegründet und 2001 das Berend-Lehmann-Museum.
In den vergangenen Jahren wurde in Halberstadt jedoch immer deutlicher, dass angesichts rückläufiger Bevölkerungszahlen eine bauliche Verdichtung der Innenstadt bis hin zum Vorkriegszustand in absehbarer Zeit nicht möglich ist. Es gibt kaum Nachfrage. Das Stadtgefüge wird vorerst von großen Kontrasten geprägt bleiben: Leere Räume, perforierte Strukturen und große Achsen wechseln auf engem Raum mit Fragmenten der historischen Altstadt. Dass in der Halberstädter St.-Burchardi-Kirche seit 2001 mit dem Orgelstück „As Slow As Possible“ von John Cage auch das „langsamste Musikstück der Welt“ aufgeführt wird, scheint eine passende musikalische Begleitung. Das Stück dauert 639 Jahre.

Leere als Herausforderung

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Im Rahmen der IBA hat die Stadt begonnen, eine offensive und aktive Debatte über die leeren Räume anzuregen. Kann aus der Leere eine individuelle Qualität der Stadt entstehen, wenn sie von der Öffentlichkeit akzeptiert und durch Gestaltung aktiv interpretiert wird? Künstlerische Aktionen und Interventionen sollen positive und negative Aspekte der ungenutzten Räume bewusst machen. Die Leere soll als Teil der städtischen Freiräume und als Aufgabe für die gesamte Stadtgemeinschaft erkannt werden.

In einem interdisziplinären Labor wurden an einem „Trainingspfad des Sehens“ die unterschiedlichen Formen und Wahrnehmungen leerer Räume in Halberstadts Kernstadt analysiert und kartiert. Seit 2007 finden entlang des Trainingspfades unterschiedliche Aktionen statt, um eine Diskussion über die verschiedenen Formen der „Leere“ und den Umgang mit diesen Räumen auszulösen. Dazu gehörten Veranstaltungen wie die Ausstellung „Stadt(t)räume“ an der Fassade des leer stehenden Einrichtungshauses am Heineplatz, das Vorlesepicknick am Abtshof, das Klangpicknick auf dem Domplatz und das Filmpicknick auf dem Heineplatz. Um diese öffentlichen Räume als Freiflächen zu betonen, die oft nur als Verkehrsflächen genutzt werden, wurden sie für die Picknicke jeweils gänzlich leer geräumt. So konnten sie in ihrer Weite erlebt werden.

Bei den Diskussionen über die künftige Nutzung der Leere in Halberstadt ist eine Neubebauung kein Tabu. So wurde für den Abtshof ein Workshop mit Studierenden aus Dresden durchgeführt, dessen Ergebnisse öffentlich präsentiert wurden. Der Besitzer will jetzt Wohnhäuser errichten lassen. Ähnlich wird auch mit der „Leere“ des Domhangs verfahren. Eine deutlich reduzierte Landschaftsgestaltung soll den Dom auf ein „grünes Tableau“ heben und den Blick auf Halberstadts wichtigstes Baudenkmal öffnen. Eine neue Freitreppe führt nun durch diese Leere wieder direkt zum Dom hinauf. Angrenzend ist das „Domforum“ geplant, ein Neubau, der die touristische Erschließung der Stadt und des berühmten Domschatzes verbessern wird.

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Halberstadt beginnt, sich als Forschungsort zum Thema „Kultivierung der Leere“ zu etablieren. 2007 und 2009 experimentierten Studierende der HTW Dresden und der TU Braunschweig mit den Möglichkeiten der städtischen Leere. 2010 wird ein musikwissenschaftliches Symposium folgen. Ebenfalls 2010 wird im ehemaligen Hallenbad die Ausstellung „Entdecke die Leere!“ gezeigt. Hier sollen die Strategien des Trainingspfades noch einmal reflektiert und die ästhetischen und atmosphärischen Dimensionen der Leere den Besuchern mit Hilfe einer multimedialen Installation zugänglich gemacht werden. Gleichzeitig soll die Ausstellung der erste Schritt sein, das schon lange ungenutzte Gebäude für eine dauerhafte Nachnutzung vorzubereiten. Die korrespondierende Ausstellung „12 Jahrhunderte Umgestaltung städtischer Räume in Halberstadt – Historische Betrachtung zum Thema der IBA Stadtumbau 2010 ‚Kultivierung der Leere’“ des Städtischen Museums beleuchtet die Hintergründe.

„Halberstädter Werkzeugkasten“

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Wie können ungenutzte Räume zugänglich gemacht werden? Wie kann ein positives Leitbild jenseits der verdichteten, europäischen Stadt aussehen? Halberstadt hat damit begonnen, seine individuellen räumlichen Qualitäten zu entdecken und für die Leerräume einen „Werkzeugkasten“ für einen offensiveren und kreativeren Umgang mit Brachen zu entwickeln. Aktionen erzeugen Aufmerksamkeit, machen bestimmte Räume zum Thema und spüren deren historischer oder künftiger Rolle nach. Aktionen testen auch Werkzeuge, radikalisieren die Fragen und erleichtern womöglich die Entscheidungen über kommende Schritte.

Florian Heilmeyer, 2010

Präsentation 2010 in Halberstadt

Ausstellung

"Entdecke die Leere"

Ehemalige Städtische Badeanstalt, Bödcherstraße 2

Gestaltung: chezweitz & roseapple, Berlin

Vorlesepicknick am Abtshof in Halberstadt

Ein Film von Henry Mertens, im Auftrag der IBA-Büro GbR, 2009 (Flash-Video, 12'04)

Weitere Halberstadt-Bilder

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Info: Halberstadt