Thesen

Sechs Grundprinzipien der IBA Stadtumbau 2010

Die Internationale Bauausstellung Stadtumbau Sachsen-Anhalt 2010 ist anders als ihre Vorgänger. Sie verzichtet auf große Prestigeprojekte und widmet sich – anstelle einer Metropole – den Klein- und Mittelstädten eines Bundeslandes. Ihr Hauptaugenmerk liegt auf einem Phänomen, das in Sachsen-Anhalt besonders virulent sein mag, dessen Bedeutung aber weit über seine Grenzen hinausgeht: den schrumpfenden Städten. Mit neuen, beispielhaften Werkzeugen und dem Mut zu ungewohnten Experimenten wagt die IBA Stadtumbau 2010 eine Form des Stadtumbaus, die den Menschen in Sachsen-Anhalt trotz hoher Abwanderungszahlen und abnehmender wirtschaftlicher Aktivität langfristige Perspektiven eröffnet. Der Weg, den die IBA dabei eingeschlagen hat, lässt sich in folgenden sechs Grundprinzipien zusammenfassen.

1) Eine IBA der Schrumpfung

Lange Zeit war das Ende des Wachstums ein Tabuthema. Zu sehr schien die wirtschaftliche Zukunft, ja die Existenz einer ganzen Gesellschaftsform von Zuwächsen und der Steigerung des Bestehenden abzuhängen. Mit der IBA Stadtumbau 2010 bewies die Landesregierung Sachsen-Anhalts außergewöhnlichen Mut: Zwei Jahre nach dem Ende der IBA Emscher Park, die sich bereits mit einem »Wandel ohne Wachstum« befasst hatte, wagt die IBA Stadtumbau 2010 erstmals die offene Auseinandersetzung mit der Schrumpfung.

Bundesweit werden bis 2020 über die Hälfte aller Landkreise und kreisfreien Städte von einem Rückgang der Bevölkerung betroffen sein. Sachsen-Anhalt gehört zu den am meisten betroffenen Bundesländern dieses deutschlandweiten Trends. Aber auch jenseits der Grenzen der Bundesrepublik stehen ähnliche Entwicklungen bevor oder haben bereits begonnen: Die meisten Länder Europas müssen sich auf sinkende Bevölkerungszahlen einstellen.

Die Gestaltung der Schrumpfung hat die Vorstellungen von städtischer Entwicklung grundlegend verändert. Als Zukunftsmodell thematisieren die Themen und Projekte der IBA die Idee einer Stadt mit geringerer baulicher Dichte, aber mit neuen Qualitäten im Hinblick auf Freiräume, Baukultur und das Engagement ihrer Bürger. der Bürgergesellschaft sowie die Schärfung kultureller, sozialer und wirtschaftlicher Stärken der überwiegend Klein- und Mittelstädte der IBA Stadtumbau 2010. Dabei müssen sich die Städte überaus flexibel zeigen, um ihre Quartiere trotz des Bevölkerungsrückgangs zu erhalten und zu stabilisieren. Durch verschiedenste Maßnahmen – von Abriss und Verdünnung über gezielte Neubebauung und Verdichtung in urbanen Kernen bis hin zu bürgerschaftlichen Trägermodellen – entstehen Handlungsmöglichkeiten, die die Städte als Gestaltungsspielraum nutzen. Das Experiment IBA zeigt, dass zukunftsfähige Städte vor allem Angebotsstädte und Orte permanenter Transformationen sind, in denen gerade das Weniger neue Qualität möglich macht.

2) Eine IBA der Klein- und Mittelstädte

Global betrachtet wohnt die deutliche Mehrheit der Menschen nicht in den großen Metropolen, sondern in Klein- und Mittelstädten. In Deutschland gilt dies besonders: Zwar gibt es hier ein dichtes Netz von Großstädten mit oberzentralen Funktionen, doch das Rückgrat der Siedlungsstruktur bilden die kleineren und mittelgroßen Gemeinden. Ihnen widmet sich die IBA Stadtumbau 2010 deshalb ganz bewusst. Sie wendet sich damit gegen die vorherrschenden urbanistischen Diskurse, die sich in der Vergangenheit weitgehend auf Metropolen und Großstädte richteten. Der Ansatz der IBA Stadtumbau 2010 steht damit auch für eine wichtige Ausweitung des Blickwinkels von Bauausstellungen insgesamt.

Die IBA-Städte haben durchschnittlich 25.000 bis 30.000 Einwohner – die Spanne reicht von Halle (300.000) bis Wanzleben (5.000). Gerade diese kleineren Städte sind mit ganz spezifischen Problemlagen konfrontiert, die sich von denjenigen der Metropolen deutlich unterscheiden. Viele stadtpolitische Probleme – etwa die demografischen Umbrüche und die Erosion der gewerblichen Basis – sind für kleinere Städte eine besonders große Herausforderung. Das Instrument einer IBA kann ihnen helfen, Energien und Kompetenzen zu mobilisieren, die sie im Gegensatz zu Großstädten nur schwer aus sich selbst heraus generieren können. In ihren Projektstädten regt die IBA planerische Verfahren an, die auch in anderen Städten und Stadtquartieren mit ähnlichen Problemen anwendbar sind.

Stadtentwicklungspolitik in kleinen Städten ist dabei nicht per se provinziell. Gerade hier können – mit engagierten Bürgern und pragmatischen Verwaltungen – innovative Konzepte erarbeitet werden. Die IBA wirkt in den 19 beteiligten Städten als Katalysator der Stadtentwicklung; sie bündelt die Kräfte vor Ort und bietet eine Plattform für den Erfahrungstransfer mit Wissenschaft und anderen Regionen. Dabei unterstützt sie vor allem die Arbeit an den individuellen Profilen der einzelnen Städte. Für die kleine Stadt des 21. Jahrhunderts liefert  die IBA Stadtumbau 2010 zukunftsweisende Planungs- und Aktivierungsmodelle.

3) Eine IBA der Konzentration auf städtische Zentren

Der industrielle Wohnungsbau der DDR und die anschließenden Suburbanisierungsphänomene der 1990er Jahre führten in Ostdeutschland zu einer weitgehenden Verlagerung der Bautätigkeit an die Ränder der Städte. Angesichts massiver Bevölkerungsverluste traten die Zersiedelung des Umlandes und die wuchernden Vororte jedoch in den Hintergrund. Mehr noch: Gerade von der Schrumpfung erhoffte man sich, dass sich die Städte gleichsam von selbst auf ihre Kerne konzentrieren und wieder verdichten würden. Leider bestätigte sich diese Erwartung nicht, die Suburbanisierung hielt an.

Die IBA Stadtumbau 2010 steht deshalb für eine entschiedene Verlagerung der Aufmerksamkeit. Sie widmet sich verstärkt den Zentren und versucht, diese in ihren vielfältigen Funktionen zu stärken. Mit ihrer historischen, baulichen und funktionalen Dichte bestimmt ihr Kern wesentlich das Bild einer Stadt, er ermöglicht Orientierung und stiftet Identifikation für die Bewohner. Es sind die Innenstädte, die urbane Lebensräume einmalig machen, sie verleihen den Städten Charakter und Authentizität. Nur mit Hilfe funktionierender Zentren können Städte auch im Zeichen des demografischen Wandels ihre besonderen Qualitäten erhalten, die sie als Stadt ausmachen.

Gerade weil der Zustand der Stadtkerne in den schrumpfenden Städten Ostdeutschlands jedoch so prekär geworden ist, sucht die IBA deren Vitalität mit unterschiedlichen Mitteln zu erhalten und zu stärken. Dabei verfährt sie zwar von Ort zu Ort unterschiedlich, doch grundsätzlich in ihren Ambitionen.

4) Eine IBA der Aktualisierung historischer Stadtkerne

Im Fokus der IBA Stadtumbau 2010 stehen Klein- und Mittelstädte in Sachsen-Anhalt mit reicher Geschichte und oft einmaligen historischen Stadtkernen. Hier liegt die Kernsubstanz der Städte, die nach radikalen Schrumpfungsprozessen erhalten bleiben soll. Die IBA betrachtet die historischen Stadtkerne deshalb als wichtige Ressource, die es zu pflegen und weiterzuentwickeln gilt. Dabei geht es keineswegs um bloße Rekonstruktion; der historische Bestand muss gerade in der Schrumpfung aktualisiert werden. Die vormodernen Kerne in vielen IBA-Städten brauchen neue Ideen, Programme und Inhalte, aber auch neue Funktionen. Sie müssen als Lebens- und Arbeitsort attraktiver und stärker genutzt werden, wollen sie Bestand haben.

Die IBA Stadtumbau 2010 bringt Denkmalpfleger und Stadtplaner zusammen, die keineswegs gegeneinander, sondern vielmehr Hand in Hand daran arbeiten, bestehende Substanz zu bewahren und zugleich zeitgenössische Architektur mit gewachsener Baukultur zusammen zu bringen. So entstehen in Städten mit langer Tradition neue Funktionen und Handlungsräume.

5) Die IBA Stadtumbau 2010 hat keine Leuchtturmprojekte

Anders als ihre Vorgänger verzichtet die IBA Stadtumbau 2010 auf prestigeträchtige Großprojekte. Sie hat keine Leuchttürme im Sinne spektakulärer Bauten hervorgebracht, sondern stattdessen an Städteprofilen gearbeitet und neue Akteure ins Spiel gebracht. Knappe öffentliche Kassen sind dafür nur zum Teil und keineswegs in erster Linie verantwortlich. Entscheidend war vielmehr die Überzeugung, dass auch finanziell schwache  Akteure ausreichende Handlungsmacht entwickeln können, wenn sie kooperieren und Bündnispartner finden. Das Ergebnis derartiger Strategien sind weder große Investitionsrenditen noch Steuermehreinnahmen, doch Kultur und Stadtgemeinschaft können davon nachhaltig profitieren.

Damit stellt die IBA Stadtumbau 2010 ein lange gewachsenes Selbstverständnis und Instrumentarium Internationaler Bauausstellungen in Frage. Sie entwickelt ihre Überzeugungs- und Leuchtkraft auf andere Weise, setzt auf temporäre und pragmatische Strategien im Umgang mit dem vor Ort Verfügbaren, ohne damit den Anspruch auf dauerhafte Lebensqualität in den kleinen Städten des 21. Jahrhunderts aufzugeben.

6) Eine IBA individueller Themen: 19 Städte – 19 Themen

Die IBA Stadtumbau 2010 unternimmt einen Schritt in unsicheres Terrain. Sie akzeptiert das  Schrumpfen als gesellschaftlich gegebenes Problem und begleitet die beteiligten Städte auf ihrem ganz spezifischen Weg, diesen Wandel zu gestalten. Insofern agiert die IBA Stadtumbau 2010 als „IBA der Themen“. Es geht ihr dabei weniger um vermarktungsfähige Images, als vielmehr um langfristige, über das Jahr 2010 hinaus wirksame Perspektiven. Solche können sich aber nur im Dialog entwickeln, abgestimmt auf die Bedürfnisse und Interessen der teilnehmenden Städte und im ständigen Austausch mit ihren Protagonisten.

Die 19 überaus heterogenen Themen waren nicht vorgegeben, sondern sind nach und nach entwickelt – ausgehandelt – worden. Im Gespräch mit Vertretern der Stadtverwaltungen und mit anderen Akteuren arbeitete die IBA heraus, welche spezifischen Potenziale, welche drängenden Aufgaben, welche möglichen Vorgehensweisen die Entwicklung dieser Städte in den kommenden fünf bis zehn Jahren prägen könnten. Auf diese Weise fanden sie zu ihren Themen – und konnten bereits damit einen entscheidenden Schritt auf dem Weg zu einem eigenständigen, tragfähigen Profil tun.

Die IBA verzichtet also bewusst auf ein übergeordnetes Leitbild, sondern übernimmt vielmehr die Rolle eines Moderators: Sie hilft den Städten, aus ihren Ressourcen und dem lokalen Kontext heraus einen jeweils eigenen Umgang mit dem Schrumpfen zu entwickeln.